* 43 *

Marcia saß im Treppenhaus auf Catchpoles Stuhl und hielt Wie man die dunklen Kräfte unschädlich macht in der Hand. Die lila Tür zu ihren Gemächern war erneut durch einen Zauber verriegelt, aber diesmal waren alle bis auf Feuerspei auf der anderen Seite und lauschten den Reinigungs-, Reparatur- und Gegenzaubern, die drinnen am Werk waren. Der junge Drache war von einem großen Spritzer getroffen worden, als Simon durch die Pfütze DomDaniels getappt war, und so hatte ihn Marcia vorsorglich im Zimmer gelassen, damit er von den Dunkelkräften gereinigt werden konnte.
Catchpole kam sich vor wie der Gastgeber einer Party, die nicht in Schwung kam. Schüchtern versuchte er, Konversation zu machen. »Ist das ein Fünf-Minuten-Reinigungszauber, Madam Marcia?«, fragte er und versuchte, sich die Liste der Reinigungszauber ins Gedächtnis zu rufen, die er letzte Woche gelernt hatte.
»Fünf Minuten!«, schnaubte Marcia verächtlich. »Fünf Minuten genügen nicht, um den Dunkelschleim zu beseitigen, der in der Wohnung verspritzt wurde. Von den Verwüstungen, die ein gewisser Drache angerichtet hat, gar nicht zu reden. Nein, es ist ein Endloszauber.«
»Ein Endloszauber! Du meine Güte!« Catchpole verschlug es die Sprache. Er sah sich schon für den Rest seines Lebens im Treppenhaus stehen und höfliche Konversation mit Marcia Overstrand machen. Keine sehr angenehme Vorstellung.
»Ein Endloszauber dauert so lange, wie es nötig ist«, belehrte ihn Marcia. »Er hört erst auf, wenn die Arbeit restlos getan ist. Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen, Catchpole, denn wenn mich nicht alles täuscht, steht der Abschnitt über Endloszauber auf der allerletzten Seite der Reinigungszauber.«
»Ach ja, richtig, jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir wieder ein, Madam Marcia.« Catchpole schluckte nervös, aber Marcia beachtete ihn nicht weiter. Sie hatte an wichtigere Dinge zu denken.
»Alther, ich möchte, dass Sie Weasal und seine grässliche Haushälterin holen. Sie sollen auf der Stelle hergebracht werden. Bin mal gespannt, was sie zu ihrer Verteidigung vorzubringen haben.«
»Nichts täte ich lieber, aber bedauerlicherweise wurde ich aus dem Haus zurückgewiesen.« Alther schüttelte untröstlich den Kopf. »Marcia, es tut mir leid, dass ich Ihnen eine so schlechte Empfehlung gegeben habe. Nach allem, was Otto Van Klampff für mich getan hat, hätte ich seinem Sohn niemals eine solche Schlechtigkeit zugetraut.«
»Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Alther. Die Schuld liegt bei Una Brakket. Und Hugh Fox. Sie haben mich ja vor Hugh Fox gewarnt, aber ich wollte nicht hören.«
»Sie standen unter dem Einfluss des Schattens«, erwiderte Alther. »Sie waren nicht Sie selbst.«
»Und auch auf Septimus habe ich nicht gehört, als Simon Jenna entführt hat«, sagte Marcia. »Zeichen gab es genug, ich wollte sie nur nicht sehen.«
»Sie konnten sie nicht sehen, Marcia«, entgegnete Alther. »Es ist eine schlimme Sache, wenn man von einem Schatten verfolgt wird.«
Marcia fuhr unvermittelt in die Höhe, und Catchpole sprang herbei, um den Stuhl aufzufangen, der nach hinten kippte.
»Jetzt ist der Schatten fort, und ich sehe wieder klarer. Und selbst als er noch da war, war ich klug genug, das Haus, in dem mein Schattenfang gebaut wurde, im Auge zu behalten. Daher kann ich eins mit Gewissheit sagen: Simon hat die Knochen aufs ganze Jahr verteilt in Weasals Haus gebracht, aber er hat nicht die Vordertür benutzt. Sonst hätten ihn meine Spione gesehen ...«
»Ihre Spione?«, fragte Alther. »Welche Spione?«
»Die Jungs von der ehemaligen Jungarmee. Die aus dem Durchgangsheim. Dort gibt es ein paar nette Burschen, die Zauberer werden wollen ...«
»Nett?«, brauste Septimus auf. »Unausstehlich sind die! Jedes Mal, wenn ich hinkam, haben sie mich verspottet.«
»Weil ich es so wollte. Alles sollte echt wirken. Ich wollte nicht, dass jemand Verdacht schöpft. Sie haben ihre Rolle sehr gut gespielt. Sie waren Tag und Nacht auf dem Steg, bei Wind und Wetter, das nenne ich Einsatz. Aus denen werden mal gute Zauberer, wenn sie älter werden.«
Ein Gedanke durchzuckte Septimus. »Er ist durch die Eistunnel gekommen, nicht wahr? Schon die ganze Zeit.«
»Pst!« Marcia blickte entsetzt. »Doch nicht vor ... Catchpole? Gehen Sie runter in die Schlangenhelling und bringen Sie Weasal Van Klampff und Una Brakket her. Sperren Sie die beiden in die Stahlkammer neben der Großen Halle, bis ich die Zeit finde, mit ihnen zu sprechen. Und anschließend holen Sie Hugh Fox und sperren ihn dazu. Verstanden?«
Catchpole verbeugte sich und eilte zur Wendeltreppe, dankbar, von seinen Pflichten als Gastgeber entbunden zu werden.
Ein paar Minuten später verkündete ein leises Surren, dass die Tür sich entriegelte. Sie schwang auf, und alle gingen wieder hinein. Der Raum war in einem tadellosen Zustand, geputzt, renoviert und von allen Spuren Schwarzer Magie befreit. Selbst Marcia wirkte zufrieden, wenigstens einen Augenblick lang, bis sie Feuerspei auf ihrem besten chinesischen Teppich sitzen sah.
»Er wird flügge«, rief sie fassungslos, »und das auf meinem besten Teppich. Verflixtes Biest!«
Feuerspei blieb völlig ungerührt. Er war gerade damit beschäftigt, zum ersten Mal seine Flügel auszubreiten. Der weiche Flaum, der sie bedeckt hatte, war abgefallen und hatte auf Marcias Teppich eine dicke Schicht feiner grüner Härchen hinterlassen. Jetzt verspürte Feuerspei den unwiderstehlichen Drang, seine Flügel zu spreizen und zu fliegen – und Marcia verstand genug von Drachen, um zu wissen, dass er durch nichts davon abzuhalten war.
»Wir müssen ihn auf die Startrampe hinausschaffen«, rief sie. »Ich möchte nicht, dass er seinen Erstflug hier drin macht.«
»Auf was für eine Startrampe?«, fragte Septimus verwirrt.
»Na, die alte da draußen vor dem Drachenfenster«, antwortete Marcia und deutete auf das Fenster, das Simon vorhin geöffnet hatte.
»Ach so ...« Jetzt endlich ging Septimus auf, warum in den steinernen Sturz über dem Fenster ein kleiner fliegender Drache eingemeißelt war.
»Keine Sorge«, sagte Marcia, »die Rampe dürfte sicher sein. Alle Außergewöhnlichen müssen sie instand halten – man weiß ja nie, ob man sie mal braucht. Nur leider bietet sie auch Dummköpfen wie Simon Heap einen Platz zum Landen.«
Mit einer Schachtel Kekse, die Septimus unter dem Spülstein fand, lockten sie Feuerspei zur Startrampe. Die Kekse waren feucht und matschig, aber das schien den Drachen nicht zu stören. Er hockte draußen auf der hölzernen Plattform, mampfte zufrieden und ließ den Blick über die Burg schweifen, die unter ihm lag wie ein überdimensionales Burgenschachbrett.
Drinnen war unterdessen eine Diskussion im Gang.
»Septimus«, sagte Marcia, »ich möchte nicht, dass du bei deinem Erstflug etwas Kompliziertes versuchst. Du sollst nur einmal um den Turm herum fliegen und dann im Hof landen. Willst du einen Navigator?«
»Einen was?«, fragte Septimus, blickte aus dem Fenster und spürte, dass er weiche Knie bekam.
»Im Draxx, Regel 16 b, Absatz viii, heißt es: Ein Navigator kann nur zum Einsatz kommen, wenn die betreffende Person am Erstflug teilgenommen hat. Wenn du also einen Navigator willst, dann jetzt oder nie.«
»Mich darfst du nicht fragen, Sep«, sagte Beetle entschuldigend, während er zusammen mit Marcia den Schwanz des Drachen aus dem Fenster schob. »Ich bin noch fünf Jahre ans Manuskriptorium gebunden. Außerdem bekomme ich nur alle zwei Wochen einen Tag frei, wenn ich Glück habe. Glaub also nicht, ich könnte als Navigator einspringen. Obwohl ich mir denken könnte, dass ich die Stelle los bin ... nach allem, was passiert ist.«
»Natürlich wirst du die Stelle behalten«, versicherte ihm Marcia. »Was man von Hugh Fox nicht behaupten kann.«
»Danke«, sagte Beetle.
»Ich tu’s, Sep«, erbot sich Jenna. »Ich fliege als Navigator mit. Das heißt, wenn du überhaupt einen willst.«
»Das würdest du wirklich tun, Jenna?«, fragte Septimus, schon etwas heiterer bei der Vorstellung, dass er wenigstens Gesellschaft hatte, wenn er hundert Meter über dem Erdboden schwebte.
»Aber natürlich. Es wäre mir eine Ehre.«
Draußen auf der Rampe verdrückte Feuerspei den letzten Keks und schluckte dann, um ja keinen Krümel zu verschwenden, gleich die ganze Schachtel hinunter. Er schnupperte die Abendluft. Wie alle Drachen vor ihrem Erstflug erschauderte er vor Erregung. Er schnaubte laut und schlug vor lauter Vorfreude mit dem Schwanz aus. Marcia und Beetle konnten sich im letzten Moment mit einem Sprung in Sicherheit bringen.
»Du solltest jetzt schleunigst aufsitzen, Septimus«, sagte Marcia. »Du willst sicher nicht, dass er ohne dich losfliegt – und wir wollen nicht, dass die Burg auf Jahre hinaus von einem reiterlosen Drachen unsicher gemacht wird.«
Septimus zwang sich, durchs Fenster auf die Startrampe zu klettern. Du kannst es schaffen, sagte er sich. Du bist auf einen hundert Meter hohen Baum geklettert, du bist über eine wackelige Brücke ins oberste Stockwerk eines Hexenhauses balanciert, und du hast ein Boot geflogen. Du hast keine Höhenangst. Nicht die geringste. Doch was er sich auch einredete, seine Beine beeindruckte es nicht. Sie waren immer noch wie Wackelpudding.
»Los, Sep«, sagte Jenna und kraxelte hinter ihm auf die Rampe, fasste ihn um die Schulter und führte ihn über die breite Holzplattform. Für einen Moment geriet er ins Wanken, als ihm der Wind, der um die Turmspitze wehte, ins Haar fuhr. »Alles in Ordnung«, flüsterte Jenna. »Sieh doch, Feuerspei wartet darauf, dass du aufsitzt.«
Septimus hatte keine Ahnung, wie er es angestellt hatte, aber ein paar Sekunden später saß er auf dem Rücken des Drachen, in einer Kuhle direkt vor den Schultern. Die Stelle war wie zum Sitzen geschaffen, und er fühlte sich erstaunlich sicher. Die Schuppen des Drachen waren zwar glatt, hatten aber leicht vorstehende Ränder, die ein Abrutschen verhinderten, und die breiten Stacheln, die wie eine Mähne Feuerspeis kräftigen Nacken bedeckten, eigneten sich hervorragend als Haltegriffe.
Jenna hatte es weniger bequem. »Rück ein Stück nach vorn«, forderte sie Septimus auf. »Ich sitze hier direkt neben den Flügeln.« Er rutschte so weit vor, wie er sich traute, und Jenna glitt in die Kuhle hinter ihm.
»Gut«, sagte Alther, der neben ihnen schwebte. »Drei Dinge zur Erinnerung. Erstens, der Abflug. Wenn er losspringt, wird er fallen wie ein Stein. Aber glaubt mir, das wird nur ein oder zwei Sekunden dauern. So beginnt jeder Erstflug. Danach fliegt er. Zweitens, die Steuerung. Ein Tritt rechts für Rechtskurve, ein Tritt links für Linkskurve. Ihr könnt es ihm aber auch einfach zurufen. Er ist ein kluger Drache, er wird es verstehen. Drittens, ich bin bei euch. Alles wird gut gehen.«
Septimus nickte. Er wollte jetzt unbedingt starten.
Marcia und Beetle streckten besorgt die Köpfe heraus. »Fertig?«, erkundigte sich Marcia.
Septimus reckte den Daumen nach oben.
»Los!«, rief Marcia. »Los! Mach schon, Beetle, schieb!«
Sie versetzten dem Drachen einen kräftigen Stoß. Leider ohne den geringsten Erfolg. Feuerspei hockte immer noch fest auf der Rampe.
»Ist das zu fassen!«, schimpfte Marcia und gab ihm noch einen Schubs. »Fort mit dir, du Faulpelz!«
Wie ein Turmspringer, der es bereut, auf das höchste Sprungbrett geklettert zu sein, der aber weiß, dass nur ein einziger Weg nach unten führt, schlurfte Feuerspei nach vorn und krallte seine Zehen um den Rand der Startrampe. Zaghaft blickte er in den Abgrund und in den Hof weit, weit unter ihnen. Septimus schloss die Augen und klammerte sich fest. Jenna spürte, wie hinter ihr die jungen Flügel zuckten, aber nichts geschah.
»Hör zu, du blöder Drache«, schrie Marcia, »glaub ja nicht, dass du hier wieder hereinkommst. Daraus wird nichts! Und wenn dir dein Leben lieb ist, dann spring jetzt endlich!« Mit aller Kraft wuchtete sie zusammen mit Beetle den Rest des Drachenschwanzes auf die Rampe.
Die Unsicherheit in Feuerspeis Augen verwandelte sich in Panik. Marcia mochte keine richtige Drachenmutter sein, aber sie besaß viele Eigenschaften, für die Drachenmütter bekannt waren, und Feuerspei merkte keinen großen Unterschied.
»Tu, was man dir sagt, und flieg!«, schrie Marcia und knallte das Fenster zu.
Feuerspei tat wie geheißen. Er stürzte sich von der Rampe – und fiel wie ein Stein. Tiefer, tiefer und immer tiefer. Vorbei am neunzehnten, am achtzehnten, am siebzehnten Stock. Dann rauschte der sechzehnte Stock vorüber, der vierzehnte. Im dreizehnten Stock dämmerte Feuerspei, was er zu tun hatte. Im zwölften kam er dahinter, wie er es zu tun hatte. Im elften klemmten seine Flügel. Im achten entfaltete er sie endlich, und im siebten spannte er sie auf wie einen großen grünen Schirm, fing den Sturz ab und glitt in einem anmutigen Bogen nach oben, bis er auf der Höhe der Turmspitze war. Marcia, die kreidebleich zugesehen hatte, strahlte übers ganze Gesicht, und Beetle stieß einen lauten Jubelschrei aus.
»Dem Himmel sei Dank«, murmelte Alther, der vor Angst fast durchsichtig geworden war und jetzt nach oben zu dem Drachen und seinen zu Tode erschrockenen Passagieren schwebte. »Alles in Ordnung?«, rief er. Er hatte Mühe, das Tempo mitzuhalten, denn nun, da der Drache seine Flügel gefunden hatte, genoss er das Gefühl zu fliegen, und er war schnell.
Septimus nickte.
»Einmal um den Turm herum«, rief Alther, »und dann im Hof landen.«
Septimus schüttelte den Kopf, denn er hatte in der Ferne die dunkle Gestalt Simon Heaps ausgemacht. Simon hatte gerade die Häuser überflogen, die an die Mauer der Bootswerft grenzten, und setzte auf der anderen Seite zur Landung an.
»Los, Feuerspei, ihm nach«, schrie Septimus.